Die Entstehung der „Hong Kong Diaries“

17 Journalistinnen und Journalisten, acht Hongkonger, zwei Monate Zeit und ein Terabyte Daten: Die „Hong Kong Diaries“ sind ein Megaprojekt. Hier wollen wir erklären, wie es entstand und welche Aspekte wichtig waren, um am Ende alles miteinander verweben zu können.

Nah dran sein

Hongkong – über die Stadt gibt es viele Filme und noch mehr Texte. Doch wir wollten näher dran sein. Ganz nah an den Menschen in Hongkong, die täglich für Demokratie kämpfen. Aber wie schafft man das, wenn man keine Reporter oder Reporterin dorthin schicken kann?

Es klingt zwar unspektakulär, aber die Antwort ist simpel: Mails schreiben. Wir haben mehr als 50 Menschen in Hongkong kontaktiert. Politikerinnen und Anwälte, Studierende, Künstler, Sportlerinnen. Das Ziel: Menschen in Hongkong finden, die bereit sind, zwei Wochen lang ihr Leben zu dokumentieren. Uns jeden Tag Fragen zu beantworten und einen Einblick in ihren Kampf für Demokratie zu geben.

Denken wie der Geheimdienst

Noch bevor die erste Mail rausging, wurde über Sicherheit gesprochen. Schnell war klar: Die gesamte Kommunikation, sowohl innerhalb des Teams als auch nach Hongkong, muss verschlüsselt bleiben. So konnte der Schutz aller Hongkonger und Hongkongerinnen gewährleisten werden, mit denen wir in Kontakt traten. Das war höchste Priorität, denn im schlimmsten Fall könnte ihnen die Kommunikation mit uns als Kooperation mit ausländischen Mächten ausgelegt werden – und sie ins Gefängnis bringen.


Sensible Daten und Details durften weder per Mail, noch per WhatsApp oder Slack ausgetauscht werden. Jede Videokonferenz, jedes Telefonat, jede Datei – alles, was einen der Hongkonger identifizierbar macht, musste geheim bleiben. Damit aber nicht genug: Jede Datei, die wir aus Hongkong bekamen, durfte nur lokal auf verschlüsselten Festplatten gespeichert werden. Keine Server, keine Cloud-Lösungen. Teilweise wurden die echten Namen der Protagonisten und Protagonistinnen nicht mal innerhalb der Redaktion laut ausgesprochen, stattdessen vergaben wir Tarnnamen. Manche unserer Figuren wurden im Laufe der Wochen mehrmals umgetauft.

Planungskonferenz vor der Betreuungsphase

Acht Menschen für Hongkong

Ein Projekt wie die „Hong Kong Diaries“ erfordert eine lange und intensive Recherche. Dazu gehört auch ein Background-Check. Bevor wir jemandem zu einem Teil des Projektes machten, waren folgende Fragen unumgänglich: Gibt es diese Person wirklich? Oder fallen wir auf einen Account der chinesischen Behörden in „Undercover-Mission” rein? Gibt es Lücken im Lebenslauf der kontaktierten Person? Wenn ja, ist diese erklärbar oder könnte in der Zeit eine militärische oder nachrichtendienstliche Ausbildung erfolgt sein?

Nach langem Hin und Her waren schließlich acht Hongkonger und Hongkongerinnen bereit, an unserem Projekt teilzunehmen. Fünf von ihnen gingen sogar ein großes Risiko ein und zeigten sich von Anfang an mit ihrem Gesicht und Klarnamen. Drei von ihnen blieben anonym. Sie bekamen Pseudonyme und zeigten sich in Videos stets vermummt. Doch damit war es nicht getan. Unser Sicherheitsteam musste das zur Veröffentlichung bereitgestellte Material permanent untersuchen und die Protagonistinnen und Protagonisten auf Sicherheitslücken hinweisen. Beispielsweise hätte in einem Fall durch die Spiegelung in einer Sonnenbrille herausgefunden werden können, wo das jeweilige Foto oder Video entstanden ist. Auch solche Kleinigkeiten hätte die Identität einer Person auffliegen lassen können.

Planungsphase: Für jeden Tag mussten Fragen und mögliche Themen erarbeitet werden

Auf Sicherheit zu achten, hieß auch, keine externen Reporter und Reporterinnen oder Kameraleute die Personen begleiten zu lassen. Es blieb uns also keine andere Wahl, als sie selbst filmen zu lassen und ihnen die dafür notwendige Technik zur Verfügung zu stellen. Alle bekamen die gleiche Ausstattung: Ein iPhone 11, ein externes Mikrofon, ein kleines Stativ und ein Licht. Einer unserer Protagonisten bekam zusätzlich eine 360-Grad-Kamera. Ein neues iPhone 11 war im Übrigen von hoher Bedeutung, da wir so sicherstellen konnten, dass das Gerät „sauber“ ist.

Zwei Wochen intensive Betreuung

Ab dem 28. September nahmen uns diese acht Menschen für zwei Wochen hautnah in ihrem Leben mit. Dafür bekam jeder und jede von ihnen eine persönliche Betreuungsperson aus unserem Team. Die anfängliche Sorge, dass zu wenig Material geschickt werden könnte, entpuppte sich schnell als Trugschluss. Bereits am ersten Tag erhielten wir eine riesige Datenmenge. Wir stellten täglich Fragen, die per Chat, Video oder Sprachnachricht beantwortet wurden.


Um ein Daten-Chaos zu vermeiden, musste das Material, was uns aus Hongkong erreichte, säuberlich gesichtet, verschlagwortet und anschließend sortiert auf verschlüsselten Festplatten gesichert werden. Was ist auf dem Video zu sehen? Was wird gesagt? Wann und wo wurde es aufgenommen? Wie war das Wetter? Nur so konnten wir den Überblick behalten und in der Postproduktion das geeignete Material für den Dokumentarfilm und die Multimediastories finden.

Sichten und bearbeiten des Materials aus Hongkong

Acht einzigartige Geschichten

Unser Ziel war es, zu erzählen, wie das Leben in Hongkong in einer Zeit aussieht, in der das kommunistische China zunehmend demokratische Freiheiten einschränkt. Und weil sich diese Problematik bei den Protagonisten und Protagonistinnen auf ganz unterschiedliche Weise widerspiegelt, haben wir uns für individuelle Multimediastories entschieden. Durch persönliche Texte, Fotos, Videos, Chat-Auszüge und Sprachnachrichten kann man nun der Lebensrealität von acht um Freiheit kämpfende Menschen aus Hongkong so nah wie nie zuvor kommen. Ein direkter und nahezu ungefilterter Eindruck, ergänzt durch Einordnungen von unserer Seite. Diese Multimediastories gehen dort ins Detail, wo der 20-minütige Dokumentarfilm an seine Grenzen stößt. Wir wären in einem so kurzem Film nicht allen Charakteren gerecht geworden, daher zeigt er nur vier der acht Charaktere, deren Kampf um Freiheit nicht unterschiedlicher sein könnte.

Ein Teil des Filmteams während der intensiven Schnittphase