Irene
Journalistin
Irene ist Journalistin. Hongkong ist zwar ihre Heimatstadt, aufgewachsen ist sie aber in Großbritannien. Sie schreibt Meinungsstücke über ihre Generation, geht gerne in Gay Bars und gehört zur privilegierten, westlichen Bubble. Während viele junge Hongkonger in ihrem Alter auf der Straße protestieren, hat sie die Hoffnung in die Politik aufgegeben. Gewalt lehnt sie strikt ab. Doch die Angst um ihre Heimatstadt bleibt.
Irene heißt eigentlich nicht Irene. Ihren richtigen Namen möchte sie nicht nennen, denn sie hat Angst vor den Konsequenzen des Nationalen SicherheitsgesetzesDas Nationale Sicherheitsgesetz trat am 30. Juni 2020 in Hongkong in Kraft. Es soll alles, was aus Sicht der chinesischen Regierung die nationale Sicherheit bedrohen könnte „verhindern, stoppen und bestrafen.“ Aufgrund des sehr vage formulierten Gesetzestextes sorgt es seit der Implementierung für große Unsicherheit in der Bevölkerung.. Als Journalistin ist sie es zwar gewohnt, unter ihrem offiziellen Namen zu publizieren, aber in diesem Tagebuch will sie ihre innersten Gedanken und persönlichen Ansichten teilen — niemand weiß, wie viel Spielraum das Sicherheitsgesetz ihr dabei lässt, wenn es um Politik geht.
Der heutige erste Tag reiht sich in ein längeres Gespräch ein, das schon einige Tage vorher begonnen hat. Bevor Irene überhaupt Persönliches mit uns teilt, will sie vor allem eins: Sicherstellen, dass niemand sie erkennt. Bereits drei Tage zuvor entscheidet sie sich für den Namen Irene.
Hast du schon darüber nachgedacht, welchen Namen du dir in unserem Projekt geben willst?
„Irene ist die griechische Friedensgöttin. Und ich glaube, Frieden ist das, worauf wir alle in Hongkong hoffen, nachdem es hier ein Jahr Proteste in der Stadt gab. Es wäre ein Traum für uns alle, endlich eine friedliche Lösung für Hongkong zu finden. Der Name Irene steht also für ein bisschen Hoffnung.“ *
Eigentlich wollen wir Irene heute besser kennenlernen. Wer ist sie? Wie lebt sie? Bislang haben wir sie lediglich auf ihrem Profilbild auf Twitter gesehen. Alle Telefonate vorab finden ohne Bild statt.
Zunächst ist sich Irene nicht sicher, wie sie sich in den Videos zeigen möchte. Wenn sie für uns ein Video aufnehmen will, fühlt sie sich unwohl. Sie hat Angst, trotz verdecktem Gesicht erkannt zu werden und macht sich deshalb auf den Weg, um eine dunklere Sonnenbrille zu kaufen.
Ich habe heute nochmal probiert mich zu filmen, aber nachdem ich mir die Videos angeschaut habe, hatte ich wieder starke Bedenken
Warum?
Mein Unwillen, mich vor der Kamera zu zeigen oder meinen richtigen Namen zu verwenden, hat eher damit zu tun, dass ich ehrlich über meine Erfahrungen und auch über meine Privatsphäre sprechen möchte. Aber wenn ich mein Gesicht verberge, fühlt es sich an, als wäre ich eine Aktivistin oder eine Frontlinerin, obwohl ich es nicht bin
Ich bin gerne die ehrliche Stimme einer normalen Hongkongerin, aber ich fühle mich nicht hundertprozentig wohl dabei, mich politischer darzustellen, als ich eigentlich bin
Natürlich sollst du nicht wie eine Frontlinerin auftreten, wenn du das nicht willst. Vielleicht kannst du dein Gesicht nur mit einem Schal bedecken?
Bis sich Irene dazu durchringt, ihr Gesicht zu zeigen und uns in einem Video mehr über sich zu erzählen, dauert es noch eine ganze Woche. Es ist eine Zeit, in der sie sich von Tag zu Tag mehr öffnet, denn zu Beginn ist sie noch zurückhaltend. Uns fällt es schwer herauszufinden, was sie wirklich denkt.
Dann schickt sie uns dieses Video, in dem sie erzählt, warum sie überhaupt bei den „Hong Kong Diaries“ mitmachen wollte.
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In der Zwischenzeit erzählt sie uns, wie sie lebt.
Wie sieht eigentlich deine Wohnung aus? Wie lebst du?
Ich lebe allein in einer 2-Zimmer-Wohnung im Westen von Hongkong Island. Es gibt ein Schlafzimmer und mein Arbeitszimmer. Ich habe noch lange zu Hause gewohnt, bevor ich ausgezogen bin, und es war immer ein Traum, eine eigene Wohnung zu haben
Dies ist mein Schreibtisch, an dem ich die meiste Zeit verbringe. Da ich freiberuflich tätig bin, arbeite ich meistens von zu Hause
Meine Wohnung ist nicht mal 30 Quadratmeter groß, das ist typisch für Hongkong. Deshalb habe ich mir diesen Couchtisch gekauft, den man zu einem Esstisch für vier Personen ausklappen kann
Wie alt warst du, als du ausgezogen bist?
Ich bin mit 26 Jahren mit dem Segen meiner Mutter ausgezogen, obwohl dieser Umzug von einigen meiner Verwandten nicht befürwortet wurde
Hongkong hat einen der teuersten Wohnungsmärkte der Welt. Für viele Menschen ist es ein weit entfernter Traum, etwas Eigenes zu besitzen. Leider können sich das viele nicht leisten
Außerdem wird in der traditionellen chinesischen Kultur von jungen Menschen erwartet, dass sie bis zur Heirat zu Hause bei ihren Eltern leben und ihre Eltern im Erwachsenenalter finanziell unterstützen. Das macht es für junge Menschen – insbesondere für diejenigen, die schlecht bezahlte Jobs haben – wirklich schwierig, jemals in einer eigenen Wohnung zu leben
Zeig uns gerne mehr von deiner Wohnung!
Meine Küche ist so klein, dass ich manchmal den Mülleimer aus meiner Küche stellen muss, um mehr Platz zu haben
* Dieses Material wurde uns ursprünglich am 25. September.
** Dieses Video wurde uns ursprünglich am 29. September zugespielt.
Mit dem Beginn der Proteste, erzählt Irene, habe sich Hongkong in zwei Lager gespalten. In jene, die ohne Zweifel hinter der prodemokratischen Protestbewegung stehen und in diejenigen, die sich eher Richtung Peking orientieren.
Die Demonstranten begannen sogar, viele Restaurants basierend auf ihrer politischen Haltung den jeweiligen Lagern zuzuordnen – durch „Yellow“- und „Blue Ribbon“Die Farbe Gelb steht in Hongkong für das demokratische, blau für das regierungsfreundliche Lager. Durch das Tragen von Armbändern in der jeweiligen Farbe kommunizieren viele Hongkongerinnern und Honkonger ihre politische Zugehörigkeit. -Labels.
Es scheint eine große Rolle zu spielen, wie sich Unternehmen positionieren – für oder gegen die Protestbewegung. Was denkst du darüber?
Letztes Jahr wollte ich einen Meinungsartikel über etwas schreiben, das damit zusammenhängt, und viele Leute rieten mir davon ab, weil die Menschen zu wütend sind und mich im Netz angreifen könnten
„Ich wollte einen Artikel über Unternehmen schreiben, die von Demonstranten angefeindet werden, weil sie sich für die Regierung ausgesprochen haben. Sie werden zur Zielscheibe von Vandalismus, wie zum Beispiele eine Starbucks-Filiale in Hongkong. Ich stehe natürlich hinter dem Kampf für Demokratie, aber nur weil die Leute die Proteste nicht unterstützen, ist dies kein Grund, ihr Geschäft zu zerstören. Das ist eigentlich gegen die Prinzipien der Demokratie. Ich wollte darüber schreiben, aber so ziemlich jeder sagte, es sei keine gute Idee, weil ich selbst angefeindet werden könnte. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie gespalten die Gesellschaft in Hongkong mittlerweile ist.“
Wie Irene in ihrer Sprachmitteilung erzählt, wurde eine Starbucks-Filliale verwüstet. Die New York Times berichtete, dass Demonstranten Hämmer und einen Feuerlöscher benutzten, um Glasregale zu zertrümmern, während andere Teller und Tabletts auf den Boden warfen. Doch der Streit zwischen den beiden Lagern ist längst nicht mehr nur Teil der öffentlichen Debatte, er setzt sich mittlerweile in vielen Hongkonger Familien fort, so auch bei Irene.
Wie diskutieren deine Familie und Freunde dieses Thema?
Meine Mutter hat einige Freunde, die Geschäfte haben, und sie streiten sich bei ihren regelmäßigen Abendessen und in ihren Gruppenchats ständig über die Proteste in Hongkong und die politische Situation. Einige von ihnen sind Blue Ribbon, andere nicht
Sie sind seit über 40 Jahren befreundet. Und wegen dieser Spannungen sprechen einige von ihnen nicht mehr miteinander. Manche werden sich vielleicht nie wieder versöhnen
Gab es noch andere Themen, die sie diskutiert haben?
Ich weiß, dass es einige ärgert, dass ausgerechnet jene, die eine ausländische Staatsbürgerschaft besitzen, pro-Peking sind. Genauso ärgert es sie, dass Carrie Lams ganze Familie die britische Staatsbürgerschaft besitzt
Wir fragen Irene noch ein wenig mehr zu Carrie LamCarrie Lam ist seit dem 1. Juli 2017 Regierungschefin in Hongkong. Sie ist die erste Frau, die dieses Amt innehat, nachdem die frühere britische Kronkolonie Hongkong im Jahr 1997 zurück an China übergeben wurde. .
Sind sie verärgert, weil Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit Hongkong jederzeit verlassen könnten?
Ich glaube, sie sind wütend, weil sie es für heuchlerisch halten, Peking zu unterstützen und gleichzeitig eine ausländische Staatsbürgerschaft zu besitzen. Die Idee ist, wenn man sein Mutterland (China) so sehr liebt, warum hat man dann einen ausländischen Reisepass?
Was denkst du über Carrie Lam?
Ich glaube, sie hat es wirklich verkackt (entschuldigt meine Ausdrucksweise).
Sie sagte einmal in einem Fernsehinterview (mit dem pekingfreundlichen TVB), dass ihre Söhne in London bleiben sollten, weil Hongkong nicht sicher sei. Und das macht die Menschen wütend
Was ist denn mit der Sicherheit aller anderen Kinder in Hongkong?
Wen würdest du gern an der Spitze Hongkongs sehen?
*
Die politische Situation ist so chaotisch hier, dass es leicht ist, irgendwann politikverdrossen zu werden und keine „Favoriten“ unter den Politikern mehr zu haben. Und die Frage, wen ich mir als Regierungschef wünschen würde, habe ich mir nie groß gestellt, weil es einfach keine Aussicht auf ein allgemeines Wahlrecht gibt
Aber ich fände es toll, wenn Joshua Wong unser Regierungschef werden würde
Es erstaunt mich immer wieder, wie weit er gekommen ist, und wir sind stolz darauf, dass er die Stimme der Bewegung ist
Wann kam der Wendepunkt, an dem du dachtest, dass du der Politik überdrüssig bist?
„Ich glaube nicht, dass es jemals einen Wendepunkt gab. Es war eher ein allmählicher Prozess, in dem ich immer wieder dachte „Das ist schrecklich, das ist enttäuschend, das fühlt sich wirklich hoffnungslos an.“ **
Irene besucht heute ihre Mutter zum Abendessen. Die beiden sehen sich mindestens alle zwei Wochen. Bei dieser Gelegenheit wollten wir wissen, wie ihre Familie über die politische Situation in Hongkong denkt. Sie schickt uns einige Videos, während sie gemeinsam das Abendessen vorbereiten.
So sieht es aus, wenn meine Mutter kocht
Am Abend sendet uns Irene die Aufnahme eines Gespräches zwischen ihr und ihrer Mutter.
Hallo nochmal! Ich hatte heute Abend nochmal ein längeres Gespräch mit meiner Mutter und habe es für euch aufgenommen. Wir haben darüber geredet, für wie gefährlich sie die Situation in Hongkong einschätzt. ***
Mama: Die Lage in Hongkong ist jetzt wirklich sehr schlecht. Ich habe Angst darüber zu reden. Ich habe Angst davor, morgen [am 1. Oktober] auf die Straße zu gehen [zu protestieren]. Ich habe Angst davor, meine Sachen auf Facebook zu schreiben.
Ich (Irene): Ich habe keine Angst, ich gehe nur nicht [zu Protesten] – ich will einfach nicht mittendrin sein
Mama: Ja, ja, das ist wahr
Ich: Aber wenn ich als Journalistin über den morgigen Tag berichten würde, hätte ich natürlich keine Angst – aber ich will nicht zu den Protesten, wenn ich nicht arbeite …
Mama: Ich habe tatsächlich Angst davor, verhaftet zu werden. Wenn die Regierung dich anklagt, klagt sie dich wegen Randalierens an. Mit meinen 60 Jahren bin ich nicht mehr mutig, ich habe wirklich Angst, ich will da nicht rausgehen. Sie [die Regierung] sehen, dass viele Leute auf die Straße gehen, zuletzt ist sogar eine Büromitarbeitern verhaftet worden – sie ist nur in ihrer Mittagspause runtergekommen, um ein paar Slogans zu rufen, und wurde dafür verhaftet. So schlimm ist es in Hongkong.
Mama: Wusstest du, dass die Regierung in Hongkong überhaupt nicht mehr „Ein Land, zwei Systeme” pflegt? Sie steht vollständig unter der Kontrolle der KPCh (Kommunistische Partei Chinas). Wenn du mich fragst, ob ich aus Hongkong weggehen würde? Nein, ich werde nicht gehen. Ich will die jungen Leute nicht alleine lassen.
Ich: Aber willst du wirklich nicht ins Ausland wegziehen?
Mama: Ich möchte zwar ins Ausland, aber gleichzeitig möchte ich auch nicht von hier wegziehen. Ich will an vorderster Front kämpfen. Aber eigentlich bin ich ein Schwächling, weil ich Angst davor habe, verhaftet zu werden. Ich will nicht ins Gefängnis gehen. Das macht allen Angst und es gibt viele Leute in Hongkong, die so denken.
Ich habe ehrlich gesagt einfach Angst. Ich muss ja nicht nur an mich denken – ich bin Mutter, ich habe Kinder. Du würdest dir Sorgen um mich machen, wenn ich ins Gefängnis komme, und ich sollte darüber nachdenken, wie ihr euch damit fühlt.
Mama: Wir haben nicht einmal eine Wahl. Ich bin sehr traurig.
Ich: Wir werden vielleicht nie wieder Wahlen abhalten.
Mama: Wir werden vielleicht nie wieder Wahlen abhalten.
* Dieses Material wurde uns ursprünglich am 5. Oktober zugespielt. Wir haben es hier verwendet, weil sie dort eine detaillierte Antwort auf unsere Frage gegeben hat.
** Dieses Material wurde uns ursprünglich am 5. Oktober als Video zugespielt. Wir haben es hier verwendet, weil sie dort eine detaillierte Antwort auf unsere Frage gegeben hat.
*** Dieses Gespräch hat uns Irene aufgenommen. Da das Gespräch auf Kantonesisch geführt wurde, hat sie es für uns übersetzt. Wir haben es im Nachgang nochmal durch eine Übersetzerin prüfen lassen. Außerdem wurde die Stimme der Mutter verfremdet, damit sie nicht zu erkennen ist.
Der 1. Oktober ist der Chinesische Nationalfeiertag. Im vergangenen Jahr fanden an diesem Tag viele Demonstrationen in Hongkong statt. Auch in diesem Jahr wurde wieder mit Protesten in der ganzen Stadt gerechnet, welche aber größtenteils wegen der Covid-19-Beschränkungen abgesagt wurden (zumindest ist das der offizielle Grund). Die Demonstranten beschließen dennoch, sich an diesem symbolischen Tag zu versammeln. Irene muss heute im Stadtzentrum ein paar Dinge erledigen und sie will versuchen, sich von den Demonstrationen fernzuhalten.
Was machst du gerade? Wo bist du im Moment?
Ich bin zu Hause und versuche rauszufinden, ob es Proteste in Tsim Sha Tsui und in Mong Kok geben wird. Wenn da welche sind, werde ich diese Gegenden meiden müssen
„Ich versuche, nicht in Gegenden zu gehen, von denen ich weiß, dass dort Proteste stattfinden. Ich möchte einfach logistisch in der Lage sein, von A nach B zu gelangen und das zu tun, was ich tun muss, ohne da reinzugeraten oder Schwierigkeiten zu haben, nach Hause zu kommen. Also habe ich die Augen offen gehalten. Ich konnte keine Informationen darüber finden, wo was passiert, also werde ich einfach gehen.”
Ich bin jetzt auf dem Weg, da ich nur in Causeway Bay Proteste sehe und nicht dort, wo ich hin will. Ich habe mich dafür entschieden, heute kein Schwarz zu tragen, um nicht als Teil der Demos gesehen zu werden
„Wenn du Schwarz trägst und dich in der Nähe der Proteste aufhältst, könntest du Schwierigkeiten kriegen. Schwarz ist nämlich die Farbe, die typischerweise mit den Demonstranten assoziiert wird. Man könnte sagen, dass das ein wenig übervorsichtig ist. Es ist noch nicht so weit gekommen, dass man, wenn man Schwarz trägt, wegen „Aufstachelung zu Hass” oder „Illegaler Versammlung” festgenommen wird. Ich habe jede Menge schwarze Klamotten und trage die immerzu. Ich vermeide es nicht allgemein Schwarz zu tragen, nur an Tagen wie dem 1. Oktober, wenn man weiß, dass etwas los ist. Das wird zu einem Teil der Psyche. Das ist wirklich traurig. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir über die Farbe unserer Kleidung nachdenken müssen, weil man verhaftet werden könnte. Das war vor ein paar Jahren noch unvorstellbar. Was könnte passieren, wenn ich schwarze Kleidung trage? Die Sache ist – wir wissen es nicht. Wir könnten angehalten und durchsucht werden. Ich habe nichts zu verbergen, aber das Risiko willst du trotzdem nicht eingehen. Auch um dir diesen psychischen Stress zu ersparen. Man will nicht mit einem Protestler verwechselt werden, also sagt man: Ich trage heute lieber kein Schwarz.“ *
Kurz darauf schickt uns Irene einige Eindrücke und Beobachtungen von dem, was sich in der Innenstadt abspielt.
Ich bin jetzt in Mong Kok
Hier sind einige Bereitschaftspolizisten, aber nichts Ernstes
Die beiden Typen in Schwarz, sind das Demonstranten?
Ich bin mir nicht sicher. Als ich fertig mit Filmen war, haben sie gerade jemanden angehalten und wollten ihn kontrollieren, aber ich wollte diesen Teil nicht filmen
„Hier auf den Straßen von Mong Kok sieht es eigentlich aus wie immer. Ziemlich viel los. Aber man sieht viel Bereitschaftspolizei, was ein bisschen beunruhigend ist. Die können ziemlich einschüchternd sein. Eine Sache, die mir aufgefallen ist, ist, dass in Gegenden, in denen es viele Proteste gibt, wie hier in Mong Kok und auch in Causeway Bay, die Behörden alle Mülltonnen in den Straßen wegräumen. Die Mülltonnen werden nämlich von einigen der Demonstranten benutzt. Sie werfen sie herum und stecken sie in Brand und so. Das ist etwas lästig: Ich bin Raucherin und weiß nie, wo ich meine Zigarettenkippen entsorgen soll.“
Irene erzählt uns später, dass sie die Demonstranten in der Sache zwar unterstützt, die anhaltenden Proteste in ihrer Heimatstadt aber sehr anstrengend findet.
Im Jahr 2019 erreichte die Protestbewegung ihren Höhepunkt. Die Regierung Hongkongs blieb unerbittlich, und die Proteste wurden mit der Zeit immer gewalttätiger. Wir fragen Irene, wie sie heute zu den Protesten steht.
* Dieses Material wurde uns ursprünglich am 3. Oktober zugespielt. Wir haben es transkribiert und die Inhalte zum besseren Verständnis sprachlich leicht bearbeitet.
Was hast du heute noch so gemacht?
Ich war auf einem Pub-Quiz. Es wurde vom Freund meines Freundes gesponsert, der gerade ein Sextoy-Start-Up gegründet hat
Wie offen sprechen die Menschen in Hongkong über Sex? In Berlin sind die Menschen insgesamt sehr offen
Ich glaube, die Menschen werden langsam etwas aufgeschlossener (so in den letzten 5-10 Jahren). Es gibt mehr Sexshops im Erdgeschoss (die sind normalerweise meistens oben in Geschäftsgebäuden versteckt), aber Sex und Sexualerziehung sind kein Thema, über das offen gesprochen wird. Einige meiner Freunde, die in Hongkong zur Schule gegangen sind, haben mir erzählt, dass Sexualerziehung erst ab 15 Jahren unterrichtet wird. In England haben wir mit Sexualerziehung angefangen, als ich 11 Jahre alt war
Hast du in deinem engen Freundeskreis Leute aus der LGBTQ+-Szene?
Ja, mein Freund, der Demonstrant, ist schwul, und wir gehen ständig zusammen in seine Lieblings-Schwulenbar
Wie ist die Situation der LGBTQ+-Community in Hongkong?
„In Hongkong gab es nie gleiche Rechte für Homosexuelle. Die LGBTQ+ Community wird stark diskriminiert, sowohl von den Behörden als auch von der Gesellschaft. Die traditionelle chinesische Denkweise passt nicht immer gut zu den Rechten der Homosexuellen, was sehr traurig ist. Aber ich denke, das ist etwas, das sich sehr langsam ändert. In Hongkong finden in einigen Jahren die Gay Games statt, und es gibt mehrere berühmte Hongkonger, die offen schwul leben, was hilft. Wenn China mehr Einfluss gewinnt, wird sich die Situation für die Gemeinschaft nicht gerade verbessern. Ich glaube, im Moment liegt der Schwerpunkt aber leider nicht auf diesem Thema, sondern auf der Aushöhlung von anderen Freiheiten und Menschenrechten. All das hatten wir vorher, wohingegen Hongkong noch nie gleiche Rechte für Homosexuelle hatte. Die Leute reden also weniger darüber, weil die Situation auch vorher schon schlecht war. Das ist bedauerlich. Es wird nicht so sehr darauf geachtet, wie es der LGBTQ+ Community ergeht, wenn China mehr Einfluss erhält.“ *
Erst 1991 wurde Homosexualität in Hongkong entkriminalisiert. In den letzten Jahren hat sich jedoch in Hongkong, wie in vielen Metropolen auf dem chinesischen Festland, eine größere LGBTQ+-Szene entwickelt. Dennoch werden queere Menschen von Teilen der konservativen Gesellschaft immer noch stigmatisiert.
In China wurde Homosexualität bis 2001 sogar als psychische Krankheit eingestuft. Auch heute noch stoßen Schwule und Lesben in China auf Feindseligkeit und Diskriminierung. Viele verstecken daher ihre sexuelle Orientierung.
Später schickt uns Irene noch Videos von ihrem gestrigen Golf-Ausflug.
Irene wurde von einem ihrer besten Freunde begleitet, einem ehemaligen Kollegen, mit dem sie jahrelang in derselben Firma arbeitete. Die beiden kennen sich seit vielen Jahren. Irene erwähnt, dass er im Gegensatz zu ihr ein aktiver Protestler ist, der 2019 sogar verhaftet wurde – gleich zweimal.
Kannst du uns etwas mehr über deinen Protest-Freund erzählen, mit dem du gestern Golf spielen warst?
Er hat im vergangenen Jahr aktiv protestiert. Mit seinen Freunde ging er irgendwann fast jede Woche zu Protesten. Letztes Jahr waren wir auch bei einigen friedlichen Protesten zusammen. Leider wurden sie zweimal wegen illegaler Versammlung verhaftet. Sie konnten gegen Kaution freigelassen werden, und die Fälle wurden fallen gelassen. Infolgedessen sprechen wir jetzt viel weniger über Politik. Er versucht, sich zurückzuhalten, um nichts zu sagen, was sie in Schwierigkeiten bringen könnte. Ich glaube nicht, dass sie dieses Jahr an Protesten teilgenommen haben. **
Und: Warum hast du dich entschieden, selber keine Frontlinerin zu sein?
„Weshalb ich nicht dasselbe mache wie mein Freund: Ich glaube nicht, dass ich die bewusste Entscheidung getroffen habe, keine Frontlinerin zu sein. Ich bin zu friedlichen Protesten gegangen, aber ich wollte einfach nicht Teil von Protesten sein, die gewalttätig werden. Wenn ich mich als Journalistin an Protesten beteiligen würde, würde ich darüber berichten und nicht selbst daran teilnehmen. Viele Proteste im vergangenen Jahr wurden über Telegram-Gruppen organisiert. Mitglied in solchen Gruppen zu sein, würde bedeuten, eine Beziehung zu den Protestierenden zu haben, was sich für mich wiederum als problematisch erweisen könnte, wenn ich eine Geschichte schreiben würde, in der sie als Quellen auftauchen.” ***
* Dieses Material wurde uns ursprünglich am 5. Oktober zugespielt.
** Dieses Material wurde uns ursprünglich am 2. Oktober als Sprach-Memo zugespielt. Wir haben es transkribiert und die Inhalte zum besseren Verständnis sprachlich leicht bearbeitet.
*** Dieses Material wurde uns ursprünglich am 2. Oktober zugespielt. Wir haben es transkribiert und die Inhalte zum besseren Verständnis sprachlich leicht bearbeitet.
Für Irene geht es heute Abend in ein Restaurant. Denn neben ihren Meinungsstücken schreibt sie auch Rezensionen über Lokale. Ihr bester Freund wird sie dorthin begleiten. Beide lieben die Stadt Hongkong, doch ihr Kampf für die Stadt und gegen den wachsenden Einfluss Chinas unterscheidet sich: Ihr Freund war unter den aktiven Protestlern. Irene hingegen war und wollte nie an vorderster Front demonstrieren.
Neben Irenes Angst gibt es noch einen weiteren Grund, warum sie die politische Situation in Hongkong kritisiert, aber wenig dagegen tut. Wir fragen immer wieder nach, schließlich öffnet sie sich in einem langen Telefongespräch, das wir einen Tag zuvor führen.
„Es ist nicht so, dass ich bei den Protesten nicht dabei sein will oder sie nicht unterstützen würde. Ich möchte nur wirklich ein normales Leben führen, und da ich mich in einer so privilegierten Position befinde, in der ich an viele verschiedene Orte gehen kann, ist das kein Problem. Das ist vielleicht der Grund.“ *
Irene hat das Privileg jederzeit das Land verlassen zu können. Für sie steht weniger auf dem Spiel, als für Menschen, die lediglich eine Staatsbürgerschaft für Hongkong besitzen. Schon während sie darüber redet, schämt sie sich dafür. Sie selbst bezeichnet es sogar als verabscheuungswürdig, dass sie ihr passives Verhalten mit ihrer privilegierten Position erklärt.
„Ich verabscheue mich selbst ein bisschen, wenn ich sage, ich muss nicht so viel in diesen Ort investieren, weil ich gehen kann. Aber es steckt auch ein Funken Wahrheit darin. Ich habe dieses Privileg meinen Eltern zu verdanken, weil sie meine Zukunft wirklich geplant haben, indem sie mich woanders zur Welt brachten und ich zusätzlich noch einen britischen Pass besitze. Für Hongkonger, die nur einen Pass für Hongkong haben, steht viel mehr auf dem Spiel. Für sie gibt es einfach kaum Hoffnung. Im Vergleich dazu habe ich mehr Optionen, weil ich fließend Englisch spreche, eine westliche Ausbildung habe und ausländische Staatsbürgerschaften besitze. Doch wenn ich sage; „Oh, ich muss nicht für meine Stadt kämpfen, klingt es zeitgleich so abstoßend.“ **
Irenes bester Freund kann Hongkong nicht oder nur schwerer verlassen, wenn sich die politische Situation verschlechtert.
Fühlst du dich schuldig gegenüber „normalen“ Hongkongern, die keinen ausländischen Pass besitzen und damit nicht die gleichen Ausreisemöglichkeiten wie du haben?
Ich fühle eher mit ihnen, als mich schuldig zu fühlen.
Später sagt Irene, wenn sich die politische Situation in Hongkong verschlechtern würde, würde sie ihren besten Freund auch heiraten.
Auf dem Rückweg vom Restaurant schickt uns Irene Bilder und letzte Grüße aus der Nacht.
Gute Nacht.
* Diese Nachricht ist ursprünglich aus einem Telefonat vom 4. Oktober. Wir haben gekürzte Teile daraus verwendet. Am 5. Oktober erlaubte Irene uns diese zu veröffentlichen.
** Diese Nachricht ist ursprünglich aus einem Telefonat vom 4. Oktober. Wir haben gekürzte Teile daraus verwendet. Am 5. Oktober erlaubte Irene uns diese zu veröffentlichen.
Heute ist es 100 Tage her, dass Hongkong das Nationale Sicherheitsgesetz The National Security Law went into effect in Hong Kong on the 30th of June 2020. It is intended to “prevent, stop and punish” everything that the Chinese government believes could threaten national security. Due to the vaguely worded text of the law, it has caused great uncertainty among the population since its implementation.auferlegt wurde.
Schon jetzt sind die Auswirkungen für Journalisten, Journalistinnen und internationale Medienhäuser spürbar: Erst im August wurde die Redaktion von Apple Daily durchsucht, ihr Chefredakteur Jimmy Lai vorübergehend festgenommen. Apple Daily zählt zu jenen unabhängigen Zeitungen in Hongkong, die sich nicht scheuen, Peking offen zu kritisieren.
Wir fragen Irene, ob sie bereits angewiesen wurde, ihre Texte zu zensieren oder sich gar selbst zensiert.
Haben dich deine Arbeitgeber angewiesen, deine Texte zu zensieren, nachdem das Nationale Sicherheitsgesetz (NSL) eingeführt wurde?
Niemand wurde ausdrücklich angewiesen sensible Themen in Texten zu vermeiden – das liegt daran, dass wir einfach nicht wissen, was das NSL wirklich bedeutet und was konkret verboten ist.
„Vielleicht wird es eines Tages wie in China werden. Aber aktuell haben wir diese Situation noch nicht. Apple Daily schreibt jeden Tag Artikel, die sich gegen die Regierung Hongkongs richten. Auch internationale Medien mit Sitz in Hongkong wie die New York Times oder der US-Fernsehsender CNN zensieren sich nicht selbst. Es ist sachlich nicht korrekt zu sagen, dass sich die Medien aus Angst selbst zensieren. Sie holen sich lediglich Rat bei Anwälten ein und reden mit offiziellen Vertretern der Regierung, um die Situation besser einschätzen zu können. Aber das NSL lässt keine schwarz-weiße Interpretation zu, die Medien vorschreibt, was erlaubt ist und was nicht.” *
Wie gehst du denn damit um, über politisch heikle Dinge zu schreiben?
Über Themen, die potentiell politisch sensibel sind, würde ich nie schreiben und mich dann selbst zensieren. Das macht keinen Sinn. Meine Chefin meinte, wenn ich etwas Heikles schreibe, kann sie zuerst drüberschauen. Wenn es zu politisch ist, würde ich es einfach nicht schreiben.
Aber wo würdest du selbst für dich die rote Linie ziehen? Gibt es ein politisches Thema, über das du nicht schreiben würdest?
„Im Augenblick würde ich nicht über die Unabhängigkeit Hongkongs schreiben. Denn wir wissen mit Sicherheit, dass das kein Thema ist, das von der Regierung gut aufgenommen wird. Zumindest würde ich mir genau überlegen, ob ich darüber schreibe.” **
Später geht Irene mit einem Freund auf den Markt, um Gemüse zu kaufen. Heute Abend wird sie mit ihrer Mutter, ihrem besten Freund und Bruder zusammen essen. Sie wollen Dumplings zubereiten, ein traditionelles kantonesisches Gericht, bei dem Teig um eine Füllung gewickelt wird. Obwohl Irene fast zehn Jahre lang ein britisches Internat besucht hat, ist Großbritannien nie ihre Heimat geworden.
Doch selbst in Hongkong – ihrem Zuhause – weilt Irene zwischen zwei Welten: der westlichen und der traditionellen chinesischen.
Als ich ins Ausland ging, wurde mir klar: ‚Wow, du kannst tatsächlich dafür gefeiert werden, dass du deine eigene Meinung hast‘
Am Abend kommt Irene im Haus ihrer Mutter an. Vor einiger Zeit hat sie sich Tarotkarten gekauft, damit will sie in Hongkongs Zukunft schauen. Irene erzählt uns, dass sie sich das Tarotkarten-Spiel selbst beigebracht hat, als sie während des Corona-Sommers viel Zeit zu Hause verbrachte. Vor jeder Tarot-Sitzung stellt Irene eine möglichst offene Frage, die ihr die Karten beantworten sollen.
Auch wenn die Karten Hongkong eine bessere Zukunft versprechen, wollen wir wissen, was passieren müsste, damit Irene ihre Koffer packen würde, um mit ihrer Familie die zu Stadt verlassen.
* Dieser Chat stammt ursprünglich vom 1. Oktober. Wir haben es transkribiert und die Inhalte zum besseren Verständnis sprachlich leicht bearbeitet.
** Dieses Material stammt ursprünglich aus einem Telefonat vom 7. Oktober. Irene hat uns erlaubt, Teile daraus zu verwenden.
Es ist Samstag und unser Projekt neigt sich langsam dem Ende zu. An diesem Wochenende schreiben wir nicht mehr sehr viel mit Irene. Sie hat uns in den letzten Tagen schon so viele interessante Einblicke in das Leben in Hongkong gegeben. Aber wir haben noch ein paar brennende Fragen.
Was ist deine größte Angst, wenn du an die Zukunft Hongkongs denkst?
Wenige Tage zuvor hatte Irene bereits ihre Angst und Unsicherheit in der aktuellen Situation beschrieben. Sie schickte uns eine Sprachmitteilung, in der sie uns erzählt, wie sie sich an einige der Wendepunkte in China und Hongkong während der 1990er Jahre erinnert.
„Meine größte Befürchtung in Bezug auf den Einfluss Chinas auf Hongkong ist mit dem Nationalen Sicherheitsgesetz bereits eingetreten. Viele Leute sprechen von diesem Tag als dem Tod von Hongkong. Ich wurde in den Neunzigern geboren, und als ich aufwuchs, war die Rückgabe Hongkongs von Großbritannien an China die größte Angst. Wir haben viele Leute wegziehen sehen, die glaubten, dass es hier keine Zukunft mehr für sie gäbe. Dass sie woanders hingehen müssen, wo es Demokratie und Stabilität gibt. Als 1997 dann da war, und nachdem ein wenig Zeit vergangen war, dachten die Leute, dass China sich an die Vereinbarung mit Großbritannien hält. Aber langsam aber sicher wurden unsere Freiheiten ausgehöhlt. China steckte seine Krallen immer fester in Hongkong. Letztes Jahr, als das ganze Auslieferungsgesetz-Fiasko passierte, dachten wir: Wenn wir alle zusammen kämpfen, verschwindet das wieder. Tat es auch: der Gesetzentwurf wurde zurückgezogen, aber das war zu wenig und zu spät. Die Regierung hatte es mit einer richtigen Revolution zu tun. Wer hätte letztes Jahr gedacht, dass wir jetzt unter dem NSL leben und die Pressefreiheit im Wesentlichen tot sein würde?” *
Am Tag zuvor traf sich Irene mit einigen ehemaligen Kollegen zum Abendessen. Irene und ihre Freunde hatten eine lebhafte Diskussion über die Unterschiede zwischen einer Ausbildung an Hongkonger Schulen und an internationalen Schulen in Hongkong oder im Ausland. Irene, die selbst in Großbritannien zur Schule gegangen ist, macht einige interessante Beobachtungen darüber, wie das Bildungssystem junge Menschen in Hongkong beeinflusst.
Kannst du uns etwas mehr über deine Erfahrungen mit dem Hongkonger Bildungssystem erzählen?
„Als ich hier in Hongkong zur Schule ging, wurde ich nie dazu ermutigt, eine eigene Meinung zu entwickeln. Das änderte sich, als ich ins Ausland ging. Man merkt hier irgendwie immer, ob jemand im Ausland studiert hat oder auf eine örtliche Schule gegangen ist. Ich glaube, die Leute erkennen das sehr schnell. Das ist eine ganz andere Denkweise. Es ist ermutigend zu sehen, wie Menschen ihre eigene Meinung haben, sich ihren Lehrern und Eltern widersetzen, zu Protesten gehen und für ihre Überzeugungen kämpfen. Es ist eine aufregende Zeit für die Menschen in Hongkong. Ich hoffe, wir sehen mehr davon. Wir müssen unseren Kindern sagen, dass man kein Arzt oder Anwalt werden muss, um erfolgreich zu sein. Sie können sein, was immer Sie sein wollen. Man musst nicht immer nur gehorchen.“
Irene meint, dass es mehr als einen Grund gibt, warum Menschen auf die Straße gehen. Ihrer Meinung nach spielt nicht nur die Wut über den Verlust grundlegender Menschenrechte eine Rolle, sondern auch die Frustration über die soziale Ungleichheit in Hongkong.
Meinst du damit, dass auch ohne den immer größer werdenden Einfluss Chinas und ohne das NSL junge Menschen auf die Straße gehen und protestieren würden?
„Man könnte meinen, es geht nur um Politik, aber es geht auch um Dinge wie die massive wirtschaftliche Ungleichheit. Junge Menschen haben keinerlei Hoffnung. Es ist also eine Gelegenheit für alle, ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen. Eine Immobilie zu kaufen ist nahezu unmöglich. Wenn man keinen guten Start ins Leben hatte (so wie ich), fühlt es sich so an, als ob es keine Chance gibt. Selbst wenn man wirklich hart arbeitet, kommt man am Ende kaum über die Runden. Ich bin sicher, dass anderswo auf der Welt ähnlich ist, aber wenn man ein politisches Klima hat wie wir, treibt es die Menschen wirklich an den Rand des Abgrunds.”
Angesichts der Tatsache, dass Irene viele Jahre ihrer Jugend und Kindheit im Ausland verbracht hat, fragten wir uns, ob sie sich selbst vorstellen könnte, Kinder in Hongkong aufzuziehen. Sie schickte uns diese Sprachmitteilung.
„Ob ich meine Kinder in Hongkong großziehen wollen würde, wenn es hier keine Demokratie gäbe? Auf gar keinen Fall. Das käme wahrscheinlich gar nicht in Frage. Ich möchte nicht, dass meine Kinder gehirngewaschen werden, und aus Büchern lernen, die dir erzählen, dass dein Vaterland wunderbar ist und keine andere Denkweise erlaubt. Das Hongkonger Schulsystem ist eine Katastrophe: Man wird nicht zu kritischem Denken ermutigt. Stattdessen wird einem nur eingetrichtert, man sollte Noten bekommen, damit man Arzt oder Anwältin werden kann. Ich muss allerdings sagen, dass es sehr ermutigend ist zu sehen, dass die jüngere Generation sich für ihre Rechte einsetzt und kämpft. Es macht mich sehr glücklich, dass wir nicht länger Menschen sind, denen gesagt wird, dass sie gegen ihren Willen Klavierunterricht nehmen sollen. Oder einen geradlinigen Weg beschreiten, den sie nicht selbst für sich gewählt haben, nur um ihre Eltern zu besänftigen.” **
Was ist dein größter Wunsch für Hongkong?
Das Wichtigste ist wirklich zu verstehen, dass Hongkong nicht nur ein Ort ist, der nur ein kleiner Punkt auf der Landkarte irgendwo in Asien ist. Wir sind alle echte Menschen mit Gedanken und Träumen und Hoffnungen, und es fühlt sich an, als ob uns das fast über Nacht genommen wird***
Die Chat-Unterhaltungen wurden auf Englisch geführt. Die Inhalte wurden von uns kuratiert und zur besseren Lesbarkeit teilweise gekürzt. Die Sinnzusammenhänge blieben erhalten.
* Dieses Material wurde uns ursprünglich am 4. Oktober zugespielt. Wir haben es transkribiert und die Inhalte zum besseren Verständnis sprachlich leicht bearbeitet.
** Dieses Material wurde uns ursprünglich am 8. Oktober zugespielt. Wir haben es transkribiert und die Inhalte zum besseren Verständnis sprachlich leicht bearbeitet.
***Dieses Material wurde uns ursprünglich als Video zugespielt. Wir haben es transkribiert und die Inhalte zum besseren Verständnis sprachlich leicht bearbeitet.